
Into the Wild…
Irgendwas passiert da mit einem… Da draußen im Nirgendwo auf einer kleinen, abgelegenen Insel inmitten eines touristisch nicht erschlossenen Sees in der großartigen Natur Schwedens – keine Menschenseele weit und breit, unendliche Stille und wohin das Auge reicht Tannen, zwischendrin immer mal wieder eine Birke, bemooste Steine und Wasser… Wir hatten für eine Woche nur das im Gepäck, was mit uns ins Kanu gepasst hat – das wegen der Menge gefühlt fast gesunken wären, aber dazu später mehr…
Hygienetante trifft Abenteuerin
Ich hatte schon immer zwei Seelen in meiner Brust: Die Hygienetante, die ein sauberes Bad ebenso zu schätzen weiß wie die Vielfalt einer guten Küche und gerne bereitwillig in eine bequeme Matratze investiert. Sowie die Abenteuerin, die weiß, dass besondere Orte und Momente oftmals außerhalb der eigenen Komfortzone liegen.
Letzterer Teil von mir war es auch, der ohne groß Nachzudenken Ja gesagt hat, als mein Liebster fragte, ob ich ihn bei seinem geplanten Me-Time-Trip nicht ausnahmsweise begleiten möchte, weil unser gemeinsamer Urlaub dieses Jahr Corona-bedingt ausfiel. Wer braucht schon Strom und fließend Wasser? Zeltlagerfeeling mit allem was dazugehört: Plumpsklo, Kochen überm Feuer, kalt duschen, Luftmatratze (Luma) – eben wie in den guten, alten Teenie Zeiten!
Doch ich bin kein Teenie mehr und die Wildnis Schwedens ist auch keine Wiese im Schwarzwald – daher erlebte ich dieses Abenteuer völlig anders und stellte mir Fragen, die aus dieser Erfahrung deutlich mehr machten als die Sommerferien-Gaudi vor 20 Jahren…

Mehr tun – mehr sein
Unsere Tage waren vor allem Arbeitstage. Jede Kleinigkeit erforderte Aufwände – und die dauerten… Hinter dem simplen Schluck Wasser steckte: Wasserschuhe anziehen, Kanu in den See tragen, Richtung Mitte für sauberes Wasser paddeln, Wasserkanister füllen, alles zurück, Wasserfilter auspacken oder abkochen. Oder Feuer machen zum Kochen oder für die Wärme nach Sonnenuntergang: Holz suchen – viel davon, denn nur tote Äste und Stöcke dürfen gesammelt werden, möglicherweise erst in die Sonne zum Trocknen legen – vor allem, wenn man es am Ufer als „Treibholz“ aufgelesen hat, zerkleinern, sortieren, Feuer machen und dann auf die Glut warten… Wahnsinn, wie lange es so dauern kann Nudeln mit einer einfachen Sauce zuzubereiten – was in der Zivilisation mit diesem Rezept keine Viertelstunde dauern würde. Und auch (halbwegs angenehm) Duschen will geplant sein: Solardusche mit Wasser befüllen, das Ding in die Sonne hängen und mit dem Stand der Sonne immer wieder umhängen – und warten…
Nie habe ich so bewusst selbst erlebt was Spezialisierung, unsere Wirtschaft, die Arbeitsteilung mir ermöglicht! Statt mich um zeitintensive Tätigkeiten rund um Themen wie Wärme und Ernährung zu kümmern – eigentlich um das einfache „Über“leben (in unserem Insel-Fall natürlich etwas übertrieben ausgedrückt), darf ich die Zeit nutzen der Freude zu folgen, mich meinen Interessen und Themen zu widmen sowie meine Talente einzubringen.
Schon interessant: Auch wenn vielleicht gerade diese Arbeitstage die Erholung von meinem Alltag gefördert haben, so bin ich doch sehr dankbar für die Möglichkeit mein Leben bzw. eben diesen Alltag so gestalten zu dürfen, wie ich das heute in der Zivilisation tun kann…

Weniger haben – besser wirtschaften
Kommen wir zurück zur Anreise und unserem völlig überladenen Kanu – was übrigens vor allem meine Schuld war. Nicht wegen der Klamottenberge, sondern wegen diversen Luxusgütern: Weinauswahl für den Abend, H-Milch als Alternative zum Milchpulver, Campingstühle – geklappt im praktischen Handtaschenformat und on top eine Hängematte – denn Auswahl muss sein, natürlich Ersatz-Isomatten – falls die Luma zwischendrin aufgibt und naja, beim Süßkram war ich wohl hungrig einkaufen und konnte mich dann beim Packen nicht so recht entscheiden was zuhause bleibt…
Hätten wir das alles gebraucht bzw. haben wir das alles gebraucht? Nein, aber es ist doch auch irgendwie Urlaub, oder? Schon spannend, dass dieser für mich offensichtlich mit Komfort und Auswahlmöglichkeiten verbunden ist und das auch dann noch einen hohen Stellenwert hat, wenn ich mich für das Outdoor-Abenteuer Einsame Insel ohne Strom und fließend Wasser entschieden habe.
Vom Verleiher gab’s zum Kanu auch diverse Ausrüstung und Lebensmittelpakete – sprichwörtlich eine Tonne an bzw. mit Fertiggerichten, die dann mit Konserven wie Pilzen, Erbsen und Möhren „verfeinert“ werden konnten. Alternativ mit einer Speckschwarte und Zwiebeln, die ebenso dabei waren wie eine Salami-Rolle. Dank schnellen Lernerfolgen beim Kochen überm Feuer, in Kombi mit dem Spirituskocher, kam schon bald deftige Hausmannskost auf den Teller – aus haltbaren und hoch energetischen Zutaten. Power und Soul Food, Sushi und die Burger mit Trüffelsauce zuhause damit Lichtjahre entfernt! Aber allen Lebensmittelweisheiten zum Trotz, eins muss ich wirklich sagen: dauerhaft draußen an der frischen Luft, dabei körperlich viel zu tun – da schmeckt deftig auch echt lecker!
Wenn die Möglichkeiten für Nachschub zu sorgen, mal eben was ein- oder nachzukaufen nicht gegeben sind, setzt offensichtlich Hamstern ein (gilt genauso für den mitgebrachten Süßkram wie das gesammelte Holz vom „Festland“, was wir mühsam zur Insel gepaddelt haben) und strikte Rationierung: Für was brauchen wir noch Kartoffeln, bevor wir die jetzt hier mit verkochen? Reicht die Kräuterleberwurst für die restlichen Brotzeiten? Hätten wir nach heute Abend auch für morgen früh noch genug Feuerholz, falls keine Sonne scheint?
Wir sind auf Versorgungssicherheit getrimmt – mal eben noch in Supermarkt oder Kiosk nebenan und Same Day Delivery haben uns, glaube ich, verwöhnt werden lassen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob daran temporäre Mangelwaren, zum Beispiel Klopapier und Mehl Anfang des Jahres, etwas geändert haben. Können wir noch haushalten mit dem, was wir haben? Kommen wir damit klar, am Ende nur noch das zu essen, was übrig ist an Vorräten? Wären wir eigentlich noch in der Lage einen „Wintervorrat“ anzulegen oder würden wir Hamstern ohne Sinn und Verstand? Und was, wenn am Ende etwas fehlt oder nicht (mehr) gefunden wird?
Digital Detox bei LTE?
Legendär war die schweißtreibende, fast schon panische Suche nach dem verschollenen Ladekabel des Smartphones eines Morgens. Irgendwie unerwartet: Wie kann in der Wildnis so eine Situation entstehen? Es ist irgendwie unwirklich und ein unfassbarer Luxus unserer modernen Zeit, dass im Nirgendwo von Schweden LTE auf dem Display steht. Beziehungsweise man heute selbst ohne Stromanschluss, einfach das Solarpanel auspacken kann, um so die Powerbank und mobilen Endgeräte über den Tag verteilt laden zu können…
Ihr ahnt es schon: die Chance für Digital Detox haben wir verpasst, aber Ausreden haben wir dafür natürlich ohne Ende. Die Einzige, die wirklich zählt, ist die Erreichbarkeit meines Liebsten für seinen Sohn. Meine laufende Blogparade, die Nachrichten sowie die Frage, ob Schweden in der Zwischenzeit wieder ein Risikogebiet wird, hätten hingehen locker auf uns warten können… Oder?

Auf einmal relativ…
Aber auch das Nicht-Detoxen hat eine Erkenntnis gebracht: Wenn man morgens vor dem bemoosten Stein, auf dem der Kocher für den Kaffee steht, sitzt und der Blick zwischen dem Nebel, der vom See aufsteigt und den Schlagzeilen in der Nachrichten-App hin und her schweift, drängt sich die Frage auf: Was zählt auf dieser Welt? Auf was liegt mein Fokus – gerade und vielleicht auch sonst im Alltag? Dort steht die unendliche Stille der nahezu unberührten Natur gegen die aktuelle, oft beunruhigende Nachrichtenlage… Gegen den Stress des letzten Tags bei der Arbeit oder der Anreise… Gegen die nicht enden wollende Diskussion in der Clique… Und verliert plötzlich an Bedeutung. Hier, wo man noch das Wasser aus dem See trinken kann, nirgends ein Stück Plastik in der Natur liegt – da scheint die Welt noch in Ordnung zu sein, obwohl sie wo anders aus den Angeln gerät. Kurze und vor allem wohltuende Verschnaufpause!
Zudem finde ich, dass die Wetterabhängigkeit, der man in so einem Camp ausgesetzt ist, Demut lehrt. Klar kann man fehlende Sonne mit Feuer kompensieren, aber Regen und ein fieser Wind haben es in sich auf Dauer. Sind wir mal ehrlich: Auch wenn es angeblich kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung gibt – irgendwann biste einfach nass oder kriegste einen Zeltkoller…

Muster – wie Gewohnheiten Sicherheit schaffen
Wie bei jedem Abenteuer ist am Anfang alles furchtbar aufregend und die Lernkurve steil: Was für ein tolles „Entdeckergefühl“ das erste Mal die Insel zu betreten, das Kanu zu entladen und an Land zu ziehen, um über die Trampelpfade das Terrain zu erkunden. Wie bewegt sich die Sonne? Was ist die Windrichtung? Wo könnte das Camp am besten, am geschütztesten liegen? Kriegen wir da Zelt, Tarp, Wäscheleine, Solardusche unter – ist eine Feuerstelle in der Nähe? Ach ja, wo gibt’s Holz und welches lokale Geäst brennt am besten? Wie gut, dass man mit dem Fernglas dabei bis zum Ufer kucken kann…
Während am ersten Tag alles erkundet und aufgebaut wird, steht an Tag zwei und drei Optimierung an: das Tarp wird nochmal anders aufgehängt, das Essen brennt nicht mehr an und die Camp-Maus hat einen Namen. Und dann entstehen Muster und Gewohnheiten – wie es sich gehört angepasst an den Stand der Sonne: zum Kaffee machen steht der Kocher immer auf demselben Stein – den, auf den die ersten Sonnenstrahlen fallen, die windgeschützte „Bucht“ bis zur Mittagszeit ist gesetzt zum Lesen nach dem Frühstück – wenn’s warm genug ist auch zum Schwimmen perfekt, nach Zwischenmahlzeit und Abwasch geht’s an die „Südspitze“ in die Hängematte. Dann noch ein Kanuausflug zum Wasser holen, Holz sammeln oder die Gegend erkunden, um anschließend am „Rotwein-Strand“ auf den Feierabend anzustoßen bevor eine:r Feuer macht und eine:r das Abendessen vorbereitet. Der Abend klingt im Anschluss an den Abwasch am Lagerfeuer mit einem Schluck Whisky aus und ins Bett geht’s recht zeitig – war ein langer Tag.
Die Urlaubslektüre, die Mahlzeiten, die Ausflugsziele, der Rotwein wechseln dabei, doch unser Timing und unsere Ortswahl steht. Alltag in the Wild! Faszinierend, wie sich das Gewohnheitsdenken, die Mustersuche auch fernab der Zivilisation fortsetzt – vielleicht weil das ein Stück weit Sicherheit im Unbekannten gibt?

Schweden ist ein sicheres Reiseland…
Wenn Tage lang kein Mensch vorbeipaddelt und der Krankenwagen 1,5 Stunden bis zum Kanuanleger, an dem wir gestartet sind braucht, wird man das Gefühl nicht los, sich besser achtsam zu bewegen. Also bezogen auf das stumpfe Beil aus der Ausrüstungsbox in Kombination mit keiner bis wenig Erfahrung im Holz spalten oder beim Rumturnen am glitschigen Ufer ohne festes Schuhwerk. Übrigens kann ich auch Horrorgeschichten vom Axtmörder oder Wildtieren mit Reißzähnen am Lagerfeuer nur bedingt empfehlen – in der Wildnis kann es im Dunkeln nämlich auch schon mal rascheln…
Ja, Schweden ist ein sicheres Reiseland, aber die Natur – die hat’s in sich! Ich werde nie, nie, nie unsere Rückfahrt vergessen, bei der wir uns mit unserem immer noch tief im Wasser liegendem Kanu (haben uns von den auf gegessenen und getrunkenen Vorräten wirklich mehr versprochen!) gegen die halbmeterhohen Wellen behaupten mussten, die nur so ins und übers Boot schwabbten. So ging’s im Zick-Zack, schräg zu den Wellen über einen See, in dem es unzählige, unerwartete Untiefen, gerade in der „sicheren“ Ufernähe, gibt. Das Auflaufen auf eine solche Stelle bei der Anreise sah für Außenstehende sicher sehr unterhaltsam aus, aber ich springe im Ablauf…
Gut dazu passt aber auch, dass man sich manche Sorgen auch einfach schenken kann. Was hatte ich klassisches Mückenopfer Sorgen, wie ein Streuselkuchen heimzukommen… Ist ja Schweden – soll schlimm dort sein! Lustigerweise auch der meisterwähnte Reisehinweis oder die im Anschluss meistgestellte Frage zur Tour. Verbuchen wir die Investition in Tonnen an Mückenschutzspray als Lagerbestand für 2021ff mit dem erfreulichen Ergebnis in Summe tatsächlich nur drei (3!) Stiche abbekommen zu haben – wer hätte das gedacht? In Schweden!!!

Eine Reise wert?
Nach neun Nächten auf der Luma – ich verspannt und sehr erleichert wieder in einem frisch bezogenen (!) Bett zu schlafen, nach der ersten gelaufenen Waschmaschine – die trotz Vorwäsche immer noch ein Feuer-Geschmäckle hat und eigentlich direkt nochmal in die Maschine gehen sollte, nach der Schicht Waldmitbringsel in meinem Waschbecken auf Grund der Maniküre und der Freude über all die zauberhaften, kleinen Dinge der Zivilisation wie Wärmeregeler im Auto, Kaffee vom Drive-In und der Klospülung… muss ich trotzdem – vielleicht auch gerade deswegen – sagen, dass diese Woche unglaublich großartig war!
Sie macht was mit einem. All die beschriebenen Erfahrungen und Erlebnisse haben dieses Abenteuer zu einer einzigartigen Reise gemacht. Es war nicht nur eine Auszeit, sondern auch eine Erinnerung daran das Leben, die Möglichkeiten, die Bequemlichkeiten und die Auswahl zu schätzen – wertzuschätzen – und den Fokus immer wieder darauf zu legen, wo Stille und Einklang zu finden sind.
Kann ich dieses Abenteuer weiterempfehlen? Auf jeden Fall! Entschleunigung trifft auf Erkenntnisse über das Leben und sich selbst, Natur pur, draußen sein macht den Kopf frei und bietet Erfahrungen und Erlebnisse, die man nicht so schnell vergisst. Doch ich würde empfehlen die Basics zu können: Kanu sicher lenken – gerade mit Blick auf Gepäck, Untiefen und Wellen, Zelt und Tarp aufbauen und Feuer machen. Und auch eine gute Vorbereitung was an Kleidung und Equipment benötigt wird (und was eben nicht!) ist sinnvoll. Nice-to-have sind natürlich: Knotentechniken, Beil-Handling und ein paar Outdoor Grundlagen wie Müll, Vorräte aufhängen oder zeitnah den Abwasch zu machen. Ansonsten lernt man schnell…

Meine ganz persönlichen Outdoor-Wochen-Learnings
- Es lohnt sich auch bei 30 Grad (und darüber jammernd) Ski-Unterwäsche anzuprobieren bzw. zu kaufen – für die ist man vor Ort dann doch seeeehr dankbar!
- Wassersnickers mit fester Sohle sind besser als klassische Wasserschuhe beim Kanu fahren.
- Früchtetee ist eine Kindheitserinnerung!
- Grundlagen der Outdoorküche: neue Rezepte wie die Pfannenpizza, was sind haltbare Vorräte und die passenden Verfeinerungsmöglichkeiten, wenn‘s halt doch mal aus der Tüte kommt sowie Kniffe zum Kochen überm Feuer, z.B. bei Bratkartoffeln Zwiebeln und Speck erst später dazugeben – sonst gibt’s bittere Briketts!
- Müllbeutel nicht an einer Tanne aufhängen, an deren Zweige die Mäuse zum Knabbern doch noch an den Sack kommen.
- Luxusartikel einschränken, v.a. damit das Kanu-Sink-und-Kenter-Potential reduziert wird. Aber dabei vielleicht doch lieber einen Wechselpulli weniger einpacken als auf die Hängematte oder die Campingstühle zu verzichten – die waren goldwert.
- Gewichtstechnisch ist bei einer solchen Tour möglicherweise der eBook-Reader den sonst geliebten Büchern aus Papier vorzuziehen! Da Auf-Horizont-und-Wasser-Starr-Momente immer mal wieder das Lesebedürfnis überholen können, kann man hier tatsächlich einige unnötige Kilos einsparen – für euch getestet!
- Blogparaden besser um solche Trips drumrum planen. Auch wenn heute alles möglich ist: Digital Detox wäre eine Option gewesen!
Zudem freuen sich die zwei Seelen in meiner Brust auf den Tag, an dem der Bulli fertig ausgebaut ist, der solche Erlebnisse in Kombination mit einer anständigen Matratze, „festen“ Wänden und der Option die Standheizung anzuschalten möglich machen wird – perfektes Match und grandiose Aussichten, oder?

Images by Melanie Belitza


Das könnte dich ebenfalls interessieren

Lernen und Wachsen mit Working out Loud
30. April 2020
4-Tage-Woche, ich komme!
26. Januar 2020