
Ist Stille ein Geschenk?
„Hat Dir das Dein Partner geschenkt?“ – „Nicht? Dann vielleicht Dein Team?“ – als ich mich, kommunikationsstarkes Energiebündel, bei einem Schweige-Retreat angemeldet habe, war der Spott vorprogrammiert. Selbstironisch muss ich aber schon zugeben, dass mich genau dieser Aspekt dort hingeführt hat: was passiert, wenn ich mal ein Wochenende die Klappe halte?
Vom Tun ins Sein kommen
Tja und so liege ich dann am ersten Abend schlaflos in meinem ein Meter breiten Klosterbett und starre auf den Lichtschein an der Decke, der es durch einen Spalt der zugezogenen Gardinen geschafft hat. Mir geht die Frage durch den Kopf, die die Seminarleiterin nach den Meditations- und Achtsamkeitsübungen des Abendprogramms immer wieder gestellt hat: Wie fühlst Du Dich gerade? Gähnende, fast schon beklemmende Langeweile kombiniert mit der inneren Unruhe mich außerhalb meiner üblichen Muster zu bewegen… So war ich ins Bett gegangen ohne mich mit dem Liebsten über den Tag und meine Gedanken ausgetauscht zu haben. Das Handy im Flugmodus – also keine Ahnung, was außerhalb meines Zimmers so los war. Netflix in weiter Ferne und auch das Buch blieb im Koffer. Und so lief „Heute gibt es leider keinen Input für Dich“ wie ein Banner immer wieder durch meine Gedanken. Vom Tun ins Sein kommen – wer hätte gedacht, dass Schweigen mein kleinstes Problem wird? Ich nicht! Und so hielt mich ein sich schnell drehendes Gedankenkarussell, mit einem bunten und manchmal auch zusammenhanglosen Themenmix über Gott und die Welt, mein Umfeld und mich selbst, wach. Hinzukam die stetig aufzubringenden Willenskraft dem Impuls zum Smartphone zu greifen zu widerstehen… Stundenlang… Und mit der fast schon frustrierenden Erkenntnis: „Toll, und nicht mal das kannst Du morgen mit jemandem teilen!!“
Tagsüber lief es besser. Trotz des Schweigens waren die Seminarzeiten, zwischendurch die Mahlzeiten und die freie Zeit, die man zum Spazierengehen nutzen konnte, das bisschen „Tun“, dass Ruhe in mein System brachte. Gerade Schweigen in einer Gruppe (rund 40 Leute) fand ich total spannend. Ohne Sprechen, keine identifizierten Gemeinsamkeiten oder Feindbilder und somit auch keine Grüppchenbildung – eine große Gemeinschaft, die sich durch (die) Stille trägt. Die Stimmung völlig neutral, weil niemand Erwartungen stellen konnte und somit auch keiner welche zu erfüllen hatte. Und es musste auch niemand „nett sein“ oder den Platz in der Gruppe finden – alles ganz entspannt!
Dennoch kam ich nicht drum herum auch über den Tag mit meinen Angewohnheiten konfrontiert zu werden: ich kam in mein Zimmer – direkt da: der Impuls zum Smartphone zu greifen, um zu sehen ob und was es Neues gibt. Oder bei einem neuen Gedanken oder einer Idee im Kopf – keine Chance das in irgendeiner Weise zu teilen, zu diskutieren oder aufzuschreiben. Puh, und dass der Tee mir gestern beim Abendessen mehr zusagte als der heute – das hat an meinem Tisch auch niemand erfahren…
Herzlich Willkommen in meinem Bewusstsein, Muster!
Diese Muster näher anzuschauen war dann am zweiten Abend mein Thema beim Decke-Starren: was genau ist eigentlich der „Suchtfaktor“ an meinem Handy? In Zeiten von Twitter müsste mir doch klar sein, dass ich sowieso gar keine Chance habe immer auf dem neusten Stand zu sein? Gleiches gilt für die diversen Nachrichten-Apps, die ich parallel lese. Und wie wichtig muss eine WhatsApp-Nachricht oder Email eigentlich sein, dass ich sie sofort lesen (und vielleicht beantworten) muss? Ist das die Neugier oder einfach eine willkommene Ablenkung zwischendurch? Was passiert, wenn ich es verzögert tue? Schließlich erreicht man mich im Notfall sowieso, denn wer was Dringendes hat ruft an (dort an der Klosterpforte und im Alltag auf dem Handy).
Und warum habe ich den Impuls meine Ideen und Gedanken auf der Stelle teilen zu wollen? Vielleicht aus Angst, sie zu vergessen, sie zu verlieren? Waren sie denn dann überhaupt wichtig genug – wären sie teilenswert gewesen? Oder ist es die Verbundenheit mit den Menschen, mit denen ich sie teile? Der Grundstein, der laufende Motor meiner Beziehungen? Vielleicht ist diese Art der Kommunikation auch einfach zur Gewohnheit geworden – schließlich teilt man ja in der heutigen Zeit am laufenden Band? Möglicherweise ist es am Ende eine Art der „Verarbeitung“? Quasi etwas abgeben, loswerden oder delegieren, damit ich mich nicht mehr oder weiter damit beschäftigen muss? Gerade bei aufreibenden oder belastenden Themen ein tolles Ventil?
Und mal im Ernst: die Sache mit dem Tee interessiert wirklich Niemanden und ist auch für Keinen relevant. Ist es ein Reflex der oberflächlichen Kommunikation sowas mitteilen zu wollen? Ein automatisches Vermeiden von Stille, in diesem Fall am Tisch? Und wie viele Dinge sage ich noch, die überflüssig sind? Wann killen Belanglosigkeiten die Chance auf sinnvolle Kommunikation auf Grund dieses, ich nenne es mal, Kommentier-Musters?
Es lässt sich vermutlich bereits erahnen: auch in der zweiten Nacht habe ich wenig geschlafen und bin ebenfalls ohne meine üblichen Einschlafrituale (Input-Input-Input) nur sehr schwer in den Schlaf gekommen. Aber es gab eine Veränderung zum Vorabend: es hat sich nicht mehr so fies angefühlt. Ich war ruhig, entspannt und da war keine Spur von Langeweile bzw. dem Bedürfnis unbedingt etwas tun zu wollen, wie Lesen oder Surfen. Auch die Gedanken waren klar, strukturiert und ohne den Karusselleffekt. War das die Annäherung an meine Mitte? Oder die Gewissheit, dass ich in (weniger als) 12h wieder dort raus bin und alles beim Alten ist? Die Früchte des Seminarprogramms zu Meditation und Achtsamkeit? Oder die Erkenntnis, dass ich auch ohne Tun, mit meinem Sein klar komme? Stolz auf die eigene Willenskraft, es durchziehen zu können? Schwer zu sagen, was es am Ende war – wahrscheinlich ein bisschen von allem. Was für mich aber vor allem zählt ist die Veränderung, die so offensichtlich zwischen den beiden Nächten stattgefunden hat und die hätte ich ohne die Stille vielleicht nie kennengelernt.
Was bleibt?
In der Abschlussrunde durfte jede:r Teilnehmer:in ihre:seine Erfahrungen teilen. Es ist wirklich krass, wie unterschiedlich die Empfindungen waren und was jeder Einzelne für sich mit nach Hause nehmen wollte – als hätten wir ähnliche aber doch verschiedene Seminare besucht.
Für mich persönlich ist an diesem Wochenende vor allem deutlich geworden, wie viel ich eigentlich (nebenher) „Tue“ und dass ich mir ununterbrochen Input organisiere. Daraus ergeben sich allgegenwärtige Muster für meine freien Minuten zwischendurch und die Einschlafzeit. Es gibt keinen Raum in meinem Alltag, in dem ich einfach nur „Bin“. Mal Hand aufs Herz: wer nimmt sich nichts zu Lesen mit auf die Toilette? Wer hat beim Laufen keine Musik oder keinen Podcast im Ohr? Und geführte Meditationen liegen ja auch voll im Trend… Auch wenn ich meine Muster grundsätzlich vorher schon kannte, haben wir uns doch selten so Auge in Auge gegenüber gestanden. Die halten einen ja nicht nur immer brav busy, sondern tarnen sich auch ganz gut, indem sie stets die besten Entschuldigungen auffahren, genau jetzt am Start sein zu müssen…
Dass ich die Willenskraft hatte mal wirklich nichts zu tun – außer Atmen und Denken – hat mich nicht nur mit Stolz erfüllt, sondern mir auch gezeigt, dass es stimmt: Stille ist ein Geschenk! Allerdings sind daran Bedingungen geknüpft, die (vor allem zu Beginn) echt nicht einfach für mich waren. So ein Wochenende muss man echt erstmal aushalten! Um das Bild zu vervollständigen: die Geschenkverpackung ist mit mehreren Doppelknoten ordentlich verschnürrt und auch das Papier ist nicht so einfach aufzureißen!
Für meinen Alltag habe ich mitgenommen, dass ich mir stille Zeit – nur für mich, ohne jeden Input und ohne jede Ablenkung – in den Tag einbauen möchte. Der ursprüngliche Plan lag bei täglich 15 Minuten. Im Laufe der ersten Wochen, in denen nicht nur an einem Tag keine 15 Minuten zu finden waren, hat mich eine Freundin darauf gebracht, dass es vielleicht einfacher wäre hier erstmal kleinere Brötchen zu backen, um mich nicht zu frustrieren. Damit sind es erstmal täglich sieben Minuten (mit Steigerungspotential) – so finde ich aber auch die Zeit dafür. Zudem brauche ich ein neues Einschlafritual – ich übe fleißig das zu kombinieren. Aber wie das so ist mit Mustern, ist das gar nicht so einfach. Und ich werde zukünftig, gerade als TwitterNewbie, bewusst darauf achten wann und warum ich zum Smartphone greife: konkretes Ziel oder Zeit totschlagen bzw. „Tun“ gegen Langeweile?
Kannst Du das empfehlen?
Für mich war dieses Wochenende ohne Frage eine große Bereicherung. Den Wunsch, es auf zehn Tage oder mehr auszuweiten oder das als jährliche Tradition zum Jahresbeginn einzuplanen, habe ich erstmal nicht. Jetzt erstmal umsetzen, was das Wochenende an Erkenntnissen gebracht hat.
Mit Empfehlungen tue ich mich sehr schwer. Aus meinem persönlichen Gefühl heraus und aus dem, was in der Feedbackrunde erzählt wurde, habe ich den Schluss gezogen, dass das Programm (es gibt ja zahlreiche und vielfältige Angebote) und der Ort (ein Kloster ist kein „neutraler“ Ort) eine sehr individuelle Wirkung haben. Aber auch, dass die Stille-Erfahrung an sich davon ein stückweit unabhängig sein kann. Also ob einem die Übungen liegen, wie groß die Gruppe oder wie schön der Raum ist – aber auch das wird im Zweifel individuell sein. Von was ich allerdings überzeugt bin, ist dass man bei einem solchen Seminar nur aus intrinsischer Motivation heraus gut aufgehoben ist sowie mit dem festen Vorsatz sich ganz darauf einzulassen, denn was passiert und die Stille mit einem macht kann vorher keiner – nichtmal man selbst – vorhersagen…

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