
Vom Experiment zum Lebens- und Arbeitsmodell
Vor einem Jahr startete ich mein Abenteuer Führen in Teilzeit – befristet auf ein Jahr, um herauszufinden, ob das für mich, mein Team und meinen Arbeitgeber ein Gewinn sein könnte. Eine Vorstellung, wie das werden würde und wie es erfolgreich klappen könnte, hatte ich im Kopf (mehr dazu hier). Doch wie immer, wenn man auf einer Reise ist, fand ich viel mehr als ich erwartet hatte. Warum mein Experiment zu meinem persönlichen Lebens- und Arbeitsmodell wurde, möchte ich in diesem Beitrag teilen.
Was verändert(e) Teilzeit?
Definitiv meine Arbeit. Aus 40 Stunden wurden 32, aus 5 Arbeitstagen 4 – die Rolle blieb gleich, ebenfalls die eigenen Ansprüche und der Ehrgeiz (mehr dazu hier). Hinzu kamen neue Impulse, die ich an meinem freien Tag entdeckte, mit in die Firma brachte und ausprobieren wollte. Klingt mathematisch unlösbar? Stimmt, vor allem, wenn noch eine Pandemie und 100% Remote für alle on top kommen, also von heute auf morgen alles neu und anders ist (mehr dazu hier).
Doch das schärfte meinen Fokus und auch meine Perspektive darauf, wie ich meine Führungsrolle leben möchte. Welche Aufgaben muss wirklich ich erledigen? Muss ich an jedem Meeting teilnehmen? Was braucht es, um abgeben zu können? Was kann ich dafür organisieren? Am Ende: Wie kann ich mich so überflüssig wie möglich machen? Und so veränderte sich der Worksplit bei uns nach und nach, mehr und mehr Verantwortung ging ins Team und heute lebe ich vielmehr das, was ich mir immer vorgenommen hatte: Führung als Service für mein Team. Auch wenn die Tage straffer und oft auch stressiger als früher (in Vollzeit mit fünf Arbeitstagen) sind, öffne ich morgens voller Tatendrang meinen Dienstlaptop und klappe ihn abends mit dem beschwingten Gefühl, was geschafft zu haben, wieder zu – als zufriedene Mitarbeiterin!
Teilzeit hat auch mich verändert. Durch mehr Raum für Reflexion und Austausch, mehr Zeit für meine Herzensthemen und nur für mich, habe ich unglaublich viel gelernt. Ganz grundsätzlich über New Work, eines meiner Lernziele, speziell über neue Lebens- und Arbeitsmodelle, Netzwerken und die Nutzung von Social Media Plattformen sowie über mich selbst. Und auch diesen Blog gäbe es ohne meinen freien Tag nicht. Für mich war die Wahl Teilzeit der perfekte Weg für die große Veränderung, ohne das eigene Sicherheitsbedürfnis zu verraten (mehr dazu hier). Ein Weg zu mehr Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und auch Dankbarkeit meinem Arbeitgeber gegenüber dafür, dass ich so leben und arbeiten darf.
Und auch mein Weltbild hat sich neu sortiert. Dadurch, dass ich mit Gewohnheiten (z.B. Arbeit ist werktags 9-5) und Glaubenssätzen (wie Karriere = 50+ Stunden/Woche), mit denen ich sozialisiert worden war, gebrochen habe, habe ich ganz neue Perspektiven gewonnen. So habe ich zum Beispiel viel über Lebenszeit, Kreativität und Prioritäten nachgedacht sowie über Geld vs. Zeit – Gedanken, die ich mir in meinem klassischen Karrieretrott vielleicht nicht so schnell gemacht hätte.
Wertet Teilzeit meine Arbeit ab?
Als ich gestartet bin gingen die Reaktionen auf mein Teilzeit-Experiment sehr auseinander. Neben “ach wie cool” und völlig verständnislosem “aber warum?” (schließlich habe ich keine Kinder oder pflege Angehörige), gab es auch eine Frage, die mich bis heute sehr nachdenklich stimmt. Sie zielte darauf ab, ob mein Team keine Vollzeit-Chefin mehr wert sei. Und auch mit den Vorurteilen rund um Teilzeit wurde ich schnell konfrontiert: Es wurde automatisch aus dem Wort Teilzeit abgeleitet, dass ich nur noch “halbtags” arbeite. Oder Mütter wurden ins Spiel gebracht, obwohl es ja keinen wirklichen Zusammenhang zu mir gibt. Auch die Frage, ob ich keine Karriereambitionen mehr hätte, kam auf. Denn so macht man ja keine Karriere! Und warum ich nicht nebenbei Lernen könnte – neben meinem Job, wie Andere auch.
So ist das zwar oftmals mit neuen Wegen oder wenn man sich in einem Bereich, der vorurteilsbehaftet ist bewegt, aber was sagt denn meine persönliche Arbeitszeit über die Leistung, den Wert meines Teams aus? Diese Frage zeigt – wie auch die zahlreichen Vorurteile – mehr als deutlich: Hier prallen einfach Welten aufeinander…
Was ich sehr schnell gelernt habe, ist dass es hilft meine Geschichte zu erzählen, sichtbar zu machen, was ich tue und warum: Was steckt dahinter und auch welche weiteren Perspektiven gibt es, neben meiner, zu neuen Lebens- und Arbeitsmodellen? Was ist der Mehrwert für einen persönlich, die Gesellschaft und die Arbeitswelt? So entstanden auch die Ideen für die Blogparade Teilzeit und die #TeilzeitPerspektiven.
Ein Tag nur für mich
Einfach großartig, überraschend und wohltuend – so würde ich meinen freien Tag beschreiben. Er bietet mir die Freiheit, das zu tun, auf was ich Lust habe, an was ich Freude habe – selbstbestimmt. Das, was ich neben meinem Job (den ich ebenfalls und nach wie vor super gerne und engagiert mache!), noch in meinem Leben unterbringen möchte, für was ich Zeit brauche oder in was ich Zeit investieren möchte: Lernen, Netzwerken, die Teilzeit-Aktionen oder auch mal eine Freundin in Elternzeit zum Frühstück zu treffen. Und manchmal finden mich auch Themen, wie letztes Jahr der Gemüseanbau auf meinem Stadtbalkon. Denn wenn man Raum und Zeit frei macht, ergeben sich – oft auch überraschend – neue Projekte.
Das Preisschild
Wie alles im Leben hat auch Teilzeit ein Preisschild, nämlich in Form eines Teilzeitgehalts. Über diese Facette meines Lebens- und Arbeitsmodells zu schreiben, fällt mir nicht leicht. Denn während ich in der privilegierten Situation bin, Zeit gegen Geld abwägen zu können, lässt sich das nicht für unsere Arbeitswelt verallgemeinern. In dieser wurde beispielsweise der Begriff “Teilzeitfalle” geprägt und nicht jede:r hat die Möglichkeit sich diese Frage zu stellen oder frei wählen zu können. Somit kann ich bei diesem Punkt nur meine persönliche Sichtweise, bezogen auf meine individuelle Situation, teilen.
Am Anfang habe ich mit unbezahlten Überstunden, die in meiner Rolle selbstverständlich bzw. von Zeit zu Zeit notwendig und unvermeidbar sind sowie gerade bei der Umstellung auf Teilzeit an meinen Arbeitstagen die Regel waren, gehadert. Und ich habe mir eine Anmerkung zu Herzen genommen, nämlich dass ich mich ja (unbezahlt) an meinem freien Tag weiterbildungstechnisch mit berufsnahen Themen beschäftigte. War das Experiment am Ende eine Milchmädchenrechnung? Gleiche Arbeitszeit anders verteilt für weniger Geld?
Zunächst machte ich genau an dieser Stelle einen klaren Schnitt: Wenn Arbeit in Zeit bzw. Wochenstunden bezahlt wird, also das gelebte Praxis ist, kann ich das nicht ändern. Also habe ich mich bewusst dazu entschieden, diesen Punkt erstmal zur Seite zu schieben und mich auf das zu fokussieren, was ich beeinflussen kann (mehr dazu hier). Über die Monate setzte ich dann an dieser Stelle nochmal in einem anderen Zusammenhang an. Ich habe Arbeit für mich „neu“ definiert bzw. mich freigemacht vom Gedanken, der aus meinem Arbeitsvertrag hervorgeht: Dass ich nach Stunden bezahlt werde. Komme ich irgendwann mit nur 32h die Woche aus? Vermutlich nicht und dazu arbeite ich auch einfach viel zu gerne an Sonderthemen, aber ich kriege eine 4-Tage-Woche hin! Und da ich das große Glück habe mit etwas Geld zu verdienen, was mir wirklich am Herzen liegt, mich begeistert und mir Freude macht, ist beruflich, bezahlt und privat, am freien Tag eben nicht wirklich trennbar.
Unterm Strich steht Zeit
Wenn ich unter alle Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem ersten Jahr einen Strich ziehe, steht dort das Thema Zeit. Mit was möchte ich in meinem Leben wieviel Zeit verbringen – welche Prioritäten setze ich? Auch finanziell. Und wie gehe ich dann in den jeweiligen Lebensbereichen mit der Zeit um? Sei es bei meiner (bezahlten) Arbeit, meinen Herzensthemen und persönlichen Projekten oder wie ich meine “Freizeit” verbringen möchte.
Begrenzte Zeit – Teilzeit – hat bei mir den Fokus geschärft und mich unterstützt Prioritäten zu setzen. Was will ich wirklich wirklich? Für diese Frage(n) sind neue Lebens- und Arbeitsmodelle ein Booster! Denn während sie auf der einen Seite Zeit begrenzen (in meinem Fall im Job), gab es auf der anderen Seite auf einmal die Zeit herauszufinden, wie ich diese verbringen und mich entsprechend organisieren möchte. Hinzu kam auch die Zeit um neue Ansätze auszuprobieren sowie mir auf Basis einer ganz bewussten Entscheidung Ziele zu setzen.
Mein persönliches Fazit
Mit jeder Woche meines Experiments etablierte sich die 4-Tage-Woche mehr in meinem Leben und Alltag. Ich genoss die Vorteile wie meinen freien Tag, das Gefühl von Freiheit sowie mein neues Lebens- und Arbeitsgefühl. Außerdem beschäftigte ich mich mit den Nachteilen, wie dem Preisschild sowie den deutlich stressigeren Arbeitstagen und fand passende Lösungen und Antworten für mich. Zudem wählte ich viel bewusster meine Themen und mit was, ich wieviel Zeit verbringen möchte. Mein Leben fühlt sich so viel runder an. Und damit war die Entscheidung klar: So möchte ich weiter leben und arbeiten – aus einem befristeten Teilzeitantrag wurde eine dauerhafte Vertragsanpassung auf eine 4-Tage-Woche.
Ob das für immer ist, kann ich nicht sagen, aber für den Moment passt es einfach ganz wunderbar. Die Themen und Projekte meines freien Tages werden sich sicher weiterentwickeln und mittelfristig könnte ich mir auch vorstellen Job/Topsharing auszuprobieren und meine Erfahrung im Bereich neue Lebens- und Arbeitsmodelle zu erweitern – denn das ist mein größtes Learning: So vieles ist möglich, wenn man sich traut und es ausprobiert!


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